Alles wie immer

Folge 5 vom 12.05.2010


Inhalt:

    - Die Geschichte der Zukunft
    - ein paar Radioaktive Sperrzonen und

    - Stargast Oscar Wilde.


Albert Camus, ausgestattet mit dem Mut zum Prinzipiellen, der seiner Zeit gerade noch eigen war, hat einmal die Idee einer künftigen Geschichte der Gegenwart entwickelt: „Manchmal suche ich mir vorzustellen, was wohl die künftigen Geschichtsschreiber von uns sagen werden. Ein einziger Satz wird ihnen zur Beschreibung des modernen Menschen genügen: Er hurte und las Zeitungen.“

Naturgemäß ignoriert Camus die Tatsache, dass nicht nur die Geschichte einen Charakter hat, sondern auch die Geschichtsschreibung. Schon damals hätte man den modernen Menschen lieber in mehrbändigen Chroniken, als in einem Satz beschrieben. Heute macht man das erst Recht nicht so kurz. Es fehlt an der nötigen Courage für solche Zuspitzungen. Essayisten aller Couleur würden lieber ganz frei heraus zugeben, dass sie über den Menschen der Gegenwart gar nichts Bestimmtes zu sagen haben, als etwas Bestimmtes, das sie zu sagen haben, in einem Satz auszudrücken.

Außerdem – und das stellt sich hinterher immer als wichtig heraus – wirken zehnbändige Werke bedeutender als einzelne Sätze. Langweiliger, aber Bedeutender. Wer sich also die Mühe gibt, in jahrelanger Kleinarbeit etwas über die Vergangenheit herauszufinden, der will es hinterher wenigstens in Leder gebunden sehen. So sind Geschichtsschreiber schon immer gewesen. Oder: Nur die Geschichtsschreiber, die so waren, sind bedeutend.

Es gibt aber Ausnahmen. Oscar Wilde beispielsweise hat es zwar nicht bei einem Satz belassen, aber bei einem Absatz:

„Im stürmischen Kampf ums Dasein verlangt es uns nach etwas Dauerhaftem, und deshalb stopfen wir unsere Hirne mit Unsinn und Fakten voll, in der törichten Hoffnung, unseren Platz behaupten zu können. Der durch und durch wohlinformierte Mensch – das ist das Ideal unserer Zeit. Das Hirn dieses durch und durch wohlinformierten Menschen ist etwas Grauenvolles. Es gleicht einem Trödelladen voller Ungeheuerlichkeiten und Staub, in dem alles über seinem eigentlichen Wert ausgezeichnet ist.“

Nehmen wir einmal kurz an, die Geschichtsschreiber der Zukunft seien frei von Profilneurosen. Dann würde ihnen zur Beschreibung des Menschen unserer Gegenwart vermutlich ein sehr kurzer Satz ausreichen. Er lautet: „Er telefonierte."

Das wäre zwar schlimm, aber wenigstens treffend. Ich befürchte nur, was aus unserer Zivilisation hauptsächlich erhalten bleiben wird sind Tupperdosen, Glasperlen und ein paar radioaktive Sperrzonen. Die restlichen Quellen haben nicht die Beständigkeit, die notwendig ist, um geschichtsfähig zu werden. Unser Papier überdauert keine 100 Jahre, Betonbauten fallen schon nach 50 in sich zusammen und elektronische Speicher halten kaum 20. Man kann sich leicht vorstellen, wie das entsprechende Geschichtsbild aussehen wird.

Ein Trost: Damit bleibt in der Archäologie künftig alles beim Alten. Sie handelt von Gefäßen, Schmuck und heiligen Stätten. Und unsere Urenkel werden von amerikanischen Plastikschüsseln wenigstens genauso gelangweilt sein, wie wir von griechischen Amphoren.

von Gerald Reuther.

 

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